Ins Herz des Kolonialismus

Sven Lindqvist: Durch das Herz der Finsternis & Wüstentaucher. Foto: Lothar Ruttner

Ausgehend von einem Satz aus Joseph Conrads Erzählung „Herz der Finsternis“, „Exterminate all the brutes“ – „Schlagt diese Bestien alle tot“, wird der Reisebericht des schwedischen Autors Sven Lindqvist durch die Wüste Algeriens und des Nigers zu einer Aufarbeitung der Kolonialgeschichte Europas und einer Abrechnung mit den damit verbundenen Greueltaten an den ursprünglichen Einwohnern der annektierten Gebiete. In seinem zugleich informativen und höchst spannenden Buch zeichnet er eine ideologische Entwicklungslinie im Herrschaftsdenken der Europäer, die mit den ersten Eroberungen anderer Erdteile begann und in der Vernichtung von Millionen von Juden im Holocaust ihren traurigen Höhepunkt, leider aber nicht ihr Ende erreichte: „Auschwitz war die moderne und industrielle Umsetzung einer Politik der Völkervernichtung, auf der die Weltmacht der Europäer sich seit langem gründete.“

Historisch genauestens recherchiert und mit Originalzitaten aus zeitgenössischen wissenschaftlichen, publizistischen und literarischen Texten versehen, ist dieses Buch ein erschreckendes und höchst lesenswertes Dokument des europäischen Völkermords, den zu verhindern nicht am mangelnden Wissen scheitert: „Was fehlt, ist der Mut, begreifen zu wollen, was wir wissen, und daraus die Konsequenzen zu ziehen.“

Ebenso entlarvend ist Lindqvists Wüstentaucher, in dem er wiederum die literarische Form des Reiseberichts mit der kritischen Analyse – in diesem Fall – literarischer Werke mühelos zu verbinden weiß. Diesmal sind es Texte von Antoine de Saint-Exupéry, Michel Vieuchange, Eugène Fromentin, Pierre Loti, Isabelle Eberhardt, André Gide, Joseph Conrad und anderen, die den Rahmen seiner eigene Reise bilden.

Saint-Exupéry hat Lindqvist gelehrt, „von einem Autor nicht nur Spannung und Abenteuer zu fordern, sondern auch Wissen, Ernsthaftigkeit und Präsenz. Vor allem Präsenz.“ Diese Erwartungshaltung übernimmt Lindqvist für sein Schreiben: In einhundert Kurz- und Kürzestkapiteln reflektiert er Erzählungen und Berichte von Sahara-Reisenden und überprüft sie mit kritischem Blickwinkel aus zeitlicher Distanz. So entlarvt er etwa André Gides Blindheit gegenüber den wahren moralischen Konflikten im Nordafrika der Jahrhundertwende. Gide, der mit seinem Immoralisten eine Geschichte einer Ehe zwischen Marceline und Michel, einem, nach Kontakt zu halbwüchsigen Arabern suchenden, latent Homosexuellen, geschrieben hat, die zu großen Teilen in Algerien spielt, sieht darin nur das Problem in der Beziehung der Eheleute, nicht aber das viel grundlegendere der Kinderprostitution: „Als mein Verdienst nicht mehr ausreicht, um meine Familie zu ernähren, ist mein kleiner Bruder Ali gezwungen, sich gegen Bezahlung von ausländischen Herren in den Hintern ficken zu lassen. Darum geht es. Der Rest ist Romantik.“

Bei aller Reflexion bleibt Lindqvists Text dennoch zutiefst literarisch, vermischt in einfacher und trockener Sprache selbst Erlebtes mit Fiktivem, ohne dabei seine geschulte Kritik an den europäischen Kolonisatoren außer Acht zu lassen. Er verbindet die Geschichte der Westsahara, Marokkos und Algeriens mit dem politischen und gesellschaftlichen Status quo und zeichnet damit gleichzeitig eine Liebeserklärung an die Wüste.

Sven Lindqvist: Durch das Herz der Finsternis. Ein Afrika-Reisender auf den Spuren des europäischen Völkermords.
Unionsverlag, 2002. 256 Seiten, Taschenbuch.
€ 9,90 (D) / € 10,20 (A) / sFr 17,70
Auch: Campus, 1999. 230 Seiten, gebunden.
€ 19,90 (D) / € 20,50 (A) / sFr 35,90

Sven Lindqvist: Wüstentaucher. Auf den Spuren von Dichtern, Träumern und Generälen.
Aus dem Schwedischen von Sandra Nalepka.
Haymon, 2002. 160 Seiten, gebunden.
€ 18,40 (A, D) / sFr 33,00

 

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