Eine Reise in die Steinzeit

Dame de Brassempouy, Mammut-Elefenbein, ca. 21.000 v. Chr, Salle Piette, Musée d’Archéologie Nationale, Saint-Germain-en-Laye. Foto: Lothar Ruttner

Im Westen von Paris, in nur 20 Minuten Fahrt mit dem RER aus dem Stadtzentrum erreichbar, liegt die französische Gemeinde Saint-Germain-en-Laye. Hier, auf einem Plateau über der Seine, am Rande eines weitläufigen Parks, ließ François I. ab 1539 auf den Überresten einer älteren Burg ein Schloss erbauen, das Château Saint-Germain-en-Laye, das fortan zur Residenz der französischen Königsfamilien wurde. Der Sonnenkönig Louis XIV. machte es sogar zu seiner Hauptresidenz, ehe er das Château Vieux zugunsten des nahegelegene Schlosses Versailles verließ. Für Österreich erlangte Saint-Germain-en-Laye später historische Bedeutung, als hier 1919 der Vertrag von Saint-Germain unterzeichnet wurde, der die Aufteilung der österreichisch-ungarischen Monarchie besiegelte. Bereits 1867 begründete Napoleon III. im Schloss den Vorläufer des heutigen Musée d’Archéologie Nationale, kurz MAN, das nationale Archäologiemuseum Fankreichs. Wer sich auf den Weg zu den Anfängen der Menschheit in Frankreich machen will, beginnt seine Reise am besten hier.

In mehreren Abteilungen beleuchtet das Museum die Geschichte der Menschheit von der Steinzeit über die Zeit der römischen Eroberung bis hin ins Mittelalter. Das eigentliche Glanzlicht des Museums aber versteckt sich abseits der öffentlich zugänglichen Ausstellungsräume, nur erreichbar im Rahmen einer speziellen Führung über einige verwinkelte Treppen, unter dem Dach des Schlosses. Isabelle Bareau führt uns durch das Haus, schließt die mit zwei Schlössern versperrte schwere Holztüre auf und öffnet einen Raum, der selbst ein Museum in sich ist: die Salle Piette.

Salle Piette, Musée d’Archéologie Nationale, Saint-Germain-en-Laye. Foto: Lothar Ruttner
Salle Piette, Musée d’Archéologie Nationale, Saint-Germain-en-Laye. Foto: Lothar Ruttner

Man betritt einen Saal von überschaubarer Größe. Ein offener Kamin beheizte hier einst die gemauerten Wänden. Die Fenster zu beiden Seiten, die den Raum früher mit Licht durchfluteten, sind heute mit hölzernen Läden verschlossen – zum Schutz der Exponate. Diese, es sind rund zehntausend, werden, fein säuberlich beschriftet und nebeneinander drapiert, in hölzernen Tisch- und Wandvitrinen präsentiert.

Benannt wurde der Saal nach dem französischen Archäologen Édouard Piette. Er leitete Ende des 19. Jahrhunderts sechs Ausgrabungen in verschiedenen Höhlen in den Pyrenäen und sammelte dort eine Unzahl von prähistorischen Fundstücken. 1904 vermachte er seine Sammlung dem damals noch jungen Museum und richtet hier diesen Saal ein, der die Zeit bis heute in seinem Originalzustand überdauert hat. Anfang des Jahrhunderts wurde er behutsam restauriert, ohne seine Konzeption zu verändern, und lässt heute den Geist des 19. Jahrhunderts wieder lebendig werden. Im ersten Moment scheint allein die Menge der Stein- und Knochenfragmente den Besucher zu überfordern, folgt die Präsentation doch in etwa genau dem Gegenteil dessen, was heute als moderne Museumspädagogik verstanden wird. Nimmt man sich aber die Zeit, die Funde genauer zu betrachten, so eröffnet sich ein wahrer Zoo: Pferdeköpfe, Rentiere, Fische, Zikaden, Füchse und Bären finden sich, von Menschen in prähistorischer Zeit detailliert eingeritzt, auf Knochenstücken und Steinen.

Isabelle Bareau lenkt die Aufmerksamkeit auf ein ganz besonderes Ausstellungsstück aus dem Magdalénien, also aus jener Epoche der Jungsteinzeit am Ende der letzten Eiszeit, das in der Grotte du Mas d’Azil im Südwesten Frankreichs gefunden wurde. Aus einem etwa 16 cm großen Knochenstück eines Rentieres sind drei, in unterschiedliche Richtungen blickende Pferdeköpfe geschnitzt. Nach links oben blickt ein Fohlen, nach links unten ein erwachsenes Pferd, und wenn man den dritten Kopf, der nach rechts blickt, genauer betrachtet, so fällt auf, dass es sich hierbei um einen fast skelettierten Schädel handelt. Vermutlich eine frühe Darstellung des Lebenszyklus.

Fragment einer Speerschleuder mit drei eingravierten Pferdeköpfen verschiedenen Alters, ca. 15.000 v. Chr., Salle Piette, Musée d’Archéologie Nationale, Saint-Germain-en-Laye. Foto: Lothar Ruttner
Fragment einer Speerschleuder mit drei eingravierten Pferdeköpfen verschiedenen Alters, ca. 15.000 v. Chr., Salle Piette, Musée d’Archéologie Nationale, Saint-Germain-en-Laye. Foto: Lothar Ruttner

Im hinteren Teil, abgehoben von der Präsentation der übrigen Exponate in diesem Raum, befindet sich eine achteckige, säulenförmigen Vitrine. Kommt man ihr zu nahe, wird man sofort von einer Tonbandstimme aufgefordert, einen respektvollen Sicherheitsabstand einzuhalten. Hier, umrahmt von mehreren Beispielen früher menschlicher Darstellungen, befindet sich vielleicht der wichtigste Schatz des Museums: die Venus von Brassempouy.

Diese „Dame de Brassempouy“ oder auch „Dame à la capuche“, Dame mit der Kapuze, genannt, eine nicht ganz 4 cm große Statuette aus dem Elfenbein eines Mammuts, ist die älteste bekannte genauere Darstellung eines menschlichen Gesichts. Die Figur wurde 1894 von Édouard Piette bei Ausgrabungen in der Grotte du Pape im Südwesten Frankreichs gefunden. Heute weiß man, dass sie aus dem Gravettien stammt und damit mehr als 21.000 Jahre alt ist. Dafür wirkt sie überraschenderweise modern: das spitz zulaufende Kinn, die Nase, die vorstehende Augenbrauenpartie sind dreidimensional gearbeitet, selbst die Augen und Pupillen sind zu erkennen. Das Haar – es wurde auch als Kapuze interpretiert – ist bemerkenswert, gestaltet mit Einkerbungen im Karo-Muster. Das Köpfchen wirkt ungemein realistisch, doch dürfte es sich nicht um ein realistisches Porträt handeln, sondern um eine idealisierte, symbolische Darstellung der Frau.

Die herausragenden Fundstücke der Sammlung sind in ausgezeichnet gefertigten Kopien, gut beleuchtet, auch in der Dauerausstellung des Museums zu sehen. Diese mystische Aura der Originale, die besondere Atmosphäre dieses Saals, den Forschergeist des frühen 20. Jahrhunderts vermag aber keine, museumspädagogisch auch noch so gut gemachte, Ausstellung so zu vermitteln, wie ein 45-minütiger Besuch in dieser Salle Piette.

 

Destination: Musée d’Archéologie Nationale

Adresse:
Musée d’Archéologie Nationale – Domaine National de Saint-Germain-en-Laye
Château-place Charles de Gaulle
78100 Saint-Germain-en-Laye
musee-archeologienationale.fr

Öffnungszeiten: Mi–Mo 10–17 Uhr
Eintritt: 7€
Anreise: Mit dem RER A ab Paris Auber (Opéra), Châtelet-Les Halles oder Gare de Lyon nach Saint-Germain-en-Laye

Führungen: Die Salle Piette kann nur im Rahmen einer Führung besucht werden. Die Termine werden auf der Website des Museums angekündigt. Eine Anmeldung via E-Mail (reservation.man@gmx.fr) oder Telefon (+33 (0)1 34516536) ist erforderlich.

Destination bereist im Oktober 2015

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