William Kentridge, eigentlich ein künstlerischer Spätzünder, ist inzwischen zu einem Fixstarter der zeitgenössischen Kunstszene geworden. Wiederholte Einladungen zur Documenta in Kassel, große Werkschauen etwa im New Yorker MoMA, in der Wiener Albertina, im EYE in Amsterdam, im MAXXI in Rom, im Berliner Martin-Gropius-Bau und im Haus der Berliner Festspiele oder zuletzt im Museum der Moderne Salzburg, ebenso wie auch Engagements für Operninszenierungen von Wolfgang Amadeus Mozarts Zauberflöte als Koproduktion u. a. der Mailänder Scala und der Nederlandse Opera Amsterdam, Dimitri Schostakowitschs Nase und Alban Bergs Lulu an der Metropolitan Opera New York, oder dessen Wozzeck bei den Salzburger Festspielen skizzieren eindrucksvoll seinen internationalen Ruf.
Italien scheint ein besonderes Verhältnis zu dem südafrikanischen Künstler zu haben. Seine Werke befinden sich dort nicht nur in öffentlichen Sammlungen, wie etwa sein großformatiger Gobelin North Pole Map (2003) oder die in Zusammenhang seiner Zauberflöte-Inszenierung entstandenen Bühnenbildmodelle Preparing the flute (2004/05) in dem von Zaha Hadid geplanten MAXXI in Rom, oder sein Gobelin Partie du Royaume de Naples contenant la Basilicate et la Calabre (2009) im Museo di Capodimonte in Neapel, der Künstler konnte auch für zwei umfangreiche Projekte zur Kunst im öffentlichen Raum gewonnen werden.
Mit dem Ausbau der Metro in Neapel entschied die Stadtregierung Mitte der 2000er-Jahre zahlreiche der neugebauten Stationen im Rahmen des Projekts Le stazioni dell’arte von namhafte Künstlern ausstatten zu lassen. Für die Station Toledo, an der gleichnamigen Einkaufsstraße Neapels, wurde der katalanische Architekt Oscar Tusquets Blanca gewonnen, und mit ihm zahlreiche Künstler – neben Shirin Neshat, Oliviero Toscani und Robert Wilson eben auch William Kentridge.
Schon am Eingang zur Station an der Mündung der Via Amando Diaz wird man von einer etwa sechs Meter hohen Stahlskulptur eines sich aufbäumenden Pferdes auf dessen Rücken ein stilisierter Reiter sitzt, begrüßt, dem Ritter von Toledo (Il Cavaliere di Toledo, 2012). Die Skulptur wirkt wie eine Metall gewordene Manifestation einer für Kentridge so typischen Figur, wie zufällig zusammengesetzt aus ausgerissenen Papierfetzen, die sich jederzeit neu zusammenformen und wieder in ihre Einzelteile zerlegen könnte. Hier steht sie aber, fest verschweißt aus einzelnen Stahlblechteilen, und trotzt der sommerlichen Sonne ebenso wie dem winterlichen Regen.
Taucht man nun über die Treppen ein in die unterirdische Station, so begegnet man gleich in der Eingangsplattform dem großformatigen Mosaik Ferrovia Centrale per la città die Napoli, 1906 (Naples Procession) (2012) von Kentridge. Vor dem Hintergrund einer fragmentierten historischen Karte der neapolitanischen Stadtbahn zieht eine Prozession dunkler, scherenschnittartiger Figuren vorbei: Der Künstler selbst, zahlreiche Musikanten und Figuren aus der Geschichte der Stadt werden von Musik begleitet und angeführt vom Schutzpatron Neapels, San Gennaro.
Tiefer in der Station, thronend über den zu den Metrogleisen führenden Rolltreppen, erinnert ein weiteres Mosaik Kentridges an die Geschichte der Stadt: Bonifica dei quartieri bassi di Napoli in relazione alla ferrovia metropolitana, 1884 (Naples Procession) (2012). Wie beim Mosaik im Eingangsbereich bildet auch hier eine historische Karte vom ersten Metrobau in Neapel unter Lamant Young den Hintergrund, vor dem ein Mann, unter Mithilfe einer einer Frau, einen Karren zieht, der mit Versatzstücken der neapolitanischen Geschichte beladen ist. Rechts sitzt eine der pompejanischen Bildwelt entlehnte Katze und beobachtet die Szene.
Ebenso historische Bezüge stellt ein weiteres, knapp 200 Kilometer entferntes Werk des Künstlers her. Der Gründungssage nach wurde Rom am 21. April 753 v. Chr. von Romulus gegründet. Dieser Tag sollte es daher auch sein, an dem 2.769 Jahre später ein Kunstwerk eingeweiht wurde, das, gefördert von Tevereterno und der Stadt Rom, den Auftakt zu einer Revitalisierung des Tiber-Ufers bilden sollte. Ein monumentaler, 550 Meter langer und 10 Meter hoher Fries von William Kentridge auf der Kaimauer der Piazza Tevere in Rom erzählt seither von den Höhe- und Tiefpunkten der römischen Geschichte: Triumphs and Laments (2016). Der Titel spielt auf das antike Ritual des römischen Triumphs an, nimmt aber ebenso Bezug auf das, was diese Feierlichkeiten traditionell überdeckten: die Perspektive der Besiegten.
Wie in seinen anderen Schattenprozessionen, die zu einem Markenzeichen des Künstlers geworden sind, versammeln sich hier Figuren aus der frühen und neueren Geschichte der Stadt, alle ihren Mythos, als auch das Gewicht ihrer Vergangenheit mit sich herumschleppend. So reihen sich etwa die Göttin Victoria und Marc Aurel aneinander, die Wölfin, Apollo und Daphne, die Schändung der Lucretia, verschiedene Päpste, der ermordete Remus sowie die Leiche von Pier Paolo Pasolini, Mussolini auf seinem Pferd, Haile Selassie, Deportierte, Migranten und Gefangene, der gekreuzigte Heilige Peter, ein gesunkenes Schiffswrack vor Lampedusa beweinende Frauen, Vittorio Emanuele II., oder Anita Ekberg und Marcello Mastroianni in der berühmten Szene aus Fellinis La dolce vita.
Die Vorlage für die einzelnen Figuren entstammt historischen Quellen. So ist etwa die genannte Victoria einer Darstellung auf der Trajanssäule (112/113 n. Chr.) auf dessen Forum in Rom nachempfunden, oder die Wölfin der bekannten Skulptur der Kapitolinischen Wölfin, die heute in den Kapitolinischen Museen zu sehen ist.
Die Machart des Frieses ist durchaus bemerkenswert. So wurden nicht etwa die Zeichnungen gemäß der Vorlage mit schwarzer Farbe auf die Kaimauern aufgemalt, sondern die Figuren aus der Patina des Mauerwerks förmlich herausgeschält, indem die verbleibenden hellen Stellen, sozusagen das Negativ, mit Hochdruckreinigern aus dem Schmutz der Jahre herausgeputzt wurde. Der Fries ist in diesem Sinne dreifach historisch: er stellt historische Szenen dar, bedient sich dafür alter Quellen, und lässt diese schließlich in Jahrzehnte alter Patina der Stadt Bild werden.
Darin steckt aber ein weiteres Wesen der Geschichte: sie ist vergänglich. Und so wird auch Kentridges Werk im Laufe der Jahre und Jahrzehnte im sich wieder neu auf dem Mauerwerk ansammelnden Schmutz verschwinden. Bevor es aber soweit ist, sollte man es noch gesehen haben.
Destination: Kentridge in Italien
MAXXI Museo nazionale delle arti del XXI secolo
Via Guido Reni 4A, 00196 Roma
Öffnungszeiten: Di–S0 11–19 Uhr, Sa 11–22 Uhr
Eintritt: 12€
www.maxxi.art
Triumphs and Laments
Piazza Tevere, 00186 Roma
www.tevereterno.it
Museo di Capodimonte
via Miano 2, 80131 Napoli
Öffnungszeiten: Do–Di 8.30–19.30 Uhr
Eintritt: 8€
www.museocapodimonte.beniculturali.it
Metro Toledo
Metro Linea 1, Napoli
www.anm.it
Destinationen bereist im April und Juli 2016